5 Die Dienerin des zweiten Herrn
„Miriam hat sich am Schluss auch so aufgeführt, wie du jetzt. Danach hatte nicht mehr viel Zeit mehr zum Leben. Das sollte dir zu denken geben.“ „Ihr seid einfach so krank. Das ist nicht mehr normal. Ihr habt ein Menschenleben auf dem Gewissen, wenn nicht noch mehr. Ihr seid Psychos. Ihr könnt Menschen so beeinflussen, dass sie euch bedingungslos folgen. Diese Menschen erkennen dann nicht mehr die Gefahr, in der sie sich befinden. Wir hätten gar nicht mit hier her kommen dürfen! Abby, wir hätten gleich gestern, als er bei und war, deine Tante verständigen sollen.“ Linda war nun aus ihrer Starre erwacht. „Das hätten wir nicht tun sollen.“, widersprach ich ihr. „Dann hätten sie uns das hier niemals erzählt! Und ich denke, du möchtest auch die Hintergründe von all dem erfahren?“ „Ja das schon, aber doch nicht unter solchen Umständen! Man Abby mach die Augen auf! Glaubst du, dass sie und wieder gehen lassen werden? Bestimmt nicht!“ An dem was Linda gesagt hatte, war etwas dran. Ich beobachtete die beiden aus den Augenwinkeln. Sie hatten einen Gesichtsausdruck aufgesetzt, der mir gar nicht gefiel. „Linda ist vorsichtiger als du. Hättest du auf sie gehört, wäret ihr jetzt nicht hier. Und sie hat richtig geraten- so schnell werden wir euch nicht gehen lassen. Andererseits hättest du dann die ganze Geschichte nicht erfahren. Und wenn du, Abby, wirklich wissen willst, wie das zwischen Miriam und mir gewesen ist, dann musst du vorher dafür sorgen, dass nicht mehr nach uns gesucht wird!“ „Und wie soll ich das anstellen?“ Ich wollte meine Stimme ruhig klingen lassen, doch es gelang mir nicht, sie zitterte. „Überlegt euch was. Wir lassen euch etwas Bedenkzeit.“ Jay schlug seine Kapuze hoch und verließ gefolgt von seinem Freund den Raum. Kaum war die Tür geschlossen, ließ Linda ihren ganzen Zorn an mir aus. „Jetzt siehst du, wohin uns das geführt hat! Du hättest von Anfang an auf mich hören sollen! Dann hätten sich deine Tante und ihre Kollegen um ihn kümmern und die Geschichte aus ihm heraus pressen können! Wir hätten jetzt sicher beschützt bei dir zu hause sein können, hätten die Tagebücher gehabt und hätten dort weiter forschen können! Stattdessen…“ „Man Linda halt die Luft an! Es nützt jetzt rein gar nichts, wenn du mir Vorwürfe machst und mir sagst, was wäre wenn…Jetzt sitzen wir nun mal hier und müssen versuchen das Beste aus der Situation zu machen. Lass uns lieber überlegen, wie wir dafür sorgen können, dass nicht mehr nach den beiden gesucht wird. Nur wenn wir dieses Spiel mitspielen, lassen sie uns vielleicht gehen.“Vielleicht ist gut…hoffentlich lassen sie uns dann gehen.
Sie hatten uns eine Stunde Zeit gelassen. Linda war diejenige, die den beiden unseren Vorschlag verkündete. Nach längerer Überlegung hielten sie ihn für sicher und erledigten, wie ich es mitbekam, zwei Telefonate. Dann ließen sie uns für ziemlich lange Zeit alleine. „Hoffentlich geht alles gut und deine Tante bemerkt den Hinweis.“ „Mach dir keine Sorgen. Sie ist Polizistin. Sie wird das schon raus finden. Nur, wie machen wir sie auf unseren derzeitigen Aufenthaltsort aufmerksam?“ „Das ist beinahe unmöglich, da wir nicht wissen, wo wir uns befinden.“ „Vielleicht verbindet ihn etwas mit diesem Ort hier. Überleg mal.“ Mir fielen eigentlich nur zwei Möglichkeiten ein, die den Ort näher eingrenzten. Sein Elternhaus, was mir am wahrscheinlichsten war, oder das von Jay! Ich wusste noch, dass sich unweit von dem Elternhaus meines Ex ein baufälliger, jedoch geräumiger Schuppen befand. Möglicherweise war er unser Aufenthaltsort. „Aber meinst du wirklich, dass sie so dumm sind und in ihre Elternhäuser zurückkehren?“ „Linda, sie rechnen doch nicht damit, dass wir meiner Tante einen Hinweis zukommen lassen.“ „Bist du dir da ganz sicher?“ Nein, dass war ich nicht.
Wir dachten schon, dass sie uns hier unserem Schicksal überlassen würden, doch so herzlos waren sie dann doch nicht. Nach einer Ewigkeit vernahmen wir Schritte, die allmählich lauter wurden. Ich dachte schon, sie würden zurückkommen, doch es war nur eine Person, die zu uns kam und als die Kapuze der Kutte zurückgeschlagen wurde, war es Angelina, die vor uns stand. Ich war nun völlig irritiert. Er hatte sie doch damals zu sich rufen lassen. „Was machst du hier?“ „Ich muss meine Strafe ableisten. Ich konnte damals wirklich nicht ahnen, dass du keine von uns bist. Ich bin ebenfalls degradiert worden und nun bin ich verdammt dazu, seine Sklavin zu sein, wenn man es überhaupt so ausdrücken kann. Ich muss Jay gehorchen. Er ist unser zweiter Herr.“ Sie drehte sich von uns weg, verriegelte die Tür ordnungsgemäß und schichtete etwas Stroh in einer Ecke auf. „Warum hat er dich hierher geschickt? Wo sind wir hier?“ „Ich bin hier, um ein Auge auf euch zu haben und euch zu versorgen, solange sie weg sind. Wo wir hier sind, darf ich euch nicht sagen.“ „Warum nicht? Willst du, dass sie uns ewig hier festhalten?“ „Abby, er ist der Guru. Was er sagt ist Gesetz! Außerdem weißt du nicht, was er für Macht hat und wie viele Leute er in seinen Bann gezogen hat.“ „So viele können es ja nicht sein.“, versuchte ich mehr Informationen aus ihr heraus zu kitzeln. „Abby, wir sind mehr als 50! Und wir werden immer mehr. Dank dir können wir uns nicht mehr in der Ruine treffen. Wir mussten sie von einem auf den anderen Tag räumen. Nichts, aber auch gar nichts, durfte verraten, dass wir längere Zeit dort gehaust hatten. Aber wozu erzähl ich euch das alles! Ich darf euch ja eigentlich überhaupt nichts sagen.“ „Wenn du das nicht sagen darfst, dass erzähl uns wenigstens, was zwischen Jay und Miriam los war.“ „Ihr wollt es unbedingt wissen?“ „Unbedingt!“ Wir hatten gleichzeitig geantwortet. „Na gut! Ihr gebt ja vorher eh keine Ruhe. Ich hab nicht viel mitbekommen, nur dass sie ihn angehimmelt hat. Sie hat ihn regelrecht vergöttert. Bei jedem Treffen sah man die beiden zusammen, nachdem Miriam zum Jünger aufgestiegen war. Es war offensichtlich, dass was zwischen den beiden lief. Unser Guru hat es akzeptiert. Nach einiger Zeit hat er ihr dann nur noch was vorgemacht. Anfangs schien er ihre Gefühle erwidert zu haben. Wie gesagt, ich habe nicht viel mitbekommen.“ „Das wissen wir schon. Erzähl uns was Neues!“ „Ich weiß nicht mehr! Glaubst du, Jay macht das in der Runde Publik? Der erzählt keinem, mit wem er gerade zusammen ist! Das geht auch keinen etwas an!“ Sie stellte eine Holzkiste vor das Stroh, was sie zuvor aufgeschüttet hatte und lies sich dort nieder.
„Was denkst du über ihn?“ „Über wen?“ „Über ihn!“ „Was interessiert dich das?“, versuchte sie die Frage abzuwimmeln. „Du hast Angst vor ihm. Du gehorchst ihm, weil du Angst hast, dass dir das Gleiche passiert, wie Miriam.“ „Das stimmt nicht!“, widersprach sie heftig. „Oh doch. Ich seh´ es dir an. Ganz deutlich!“ „Ich habe keine Angst vor ihm!“ „Du brauchst uns nichts vor zumachen. Du bist nicht die einzige, die Angst vor ihm hat.“ „Hör auf Abby.“ „Gut, weil du es bist. Dann eine andere Frage, du hattest vorhin gesagt, dass du degradiert worden bist. Warum trägst du dann eine schwarze Kutte?“ „Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, wie du damals.“ „Wann sind die beiden weggegangen?“, fragte sie auf einmal. „Keine Ahnung. Mir kommt es vor wie eine Ewigkeit.“ Daraufhin sagte sie nichts weiter. Unter ihrer Kutte holte sie ein altes Pergament hervor, entfaltete es und begann darin zu lesen. Ich interesierte mich nicht weiter für das Schriftstück und versuchte auf Geräusche aus der Umgebung zu achten. Anscheinend war das Gebiet, in dem wir uns befanden kaum bewohnt. Menschen in schwarzer Mönchstracht müssten doch normalerweise auffallen. Also fiel wohl der Schuppen, in der Nähe des Elternhauses meines Ex, aus der Reihe unserer möglichen Aufenthaltsorte. Da wir nicht wussten, wie sie reagieren würde, wenn wir uns unterhielten, schwiegen wir. Ich beobachtete sie während der ganzen Zeit. Während sie las, schien sie mit sich zu ringen. Wahrscheinlich überlegte sie, ob sie uns noch etwas preisgab. Dann hatte sie bemerkt, dass ich sie beobachtete. Sie faltete das Pergament wieder zusammen und stand von der Kiste auf, auf der sie gesessen hatte. Dabei rutschte die Kutte von ihren Schultern, als sie uns den Rücken zugedreht hatte. Einige Sekunden lang war ihr Nacken sichtbar und diese kurze Zeit hatte ausgereicht, um ein Tatoo sichtbar zu machen. Genau am Nacken. Genau an der Stelle, wie Jay es hatte. Ein Pferdekopf, dessen Mähne drei Buchstaben bildete…
 
6 Jay Wilson
…Jay! Jay? Was hat sie mit Jay zu tun? Aber Moment mal, wenn Jay auch so ein Tatoo besitzt, könnte es durchaus sein, dass bei ihm Angelina stand. Und wenn dies wirklich so war, hatten sie wohl möglich ein Verhältnis gehabt. Möglich, so wie bei Miriam. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich konnte sie nicht so schnell ordnen, wie sie meinen Kopf durchströmten.
Schnell zog sie ihre Kutte enger. Ein Blick zu Linda reicht aus, um zu erkennen, dass auch sie das Tatoo bemerkt hatte. Nach diesem Vorfall hatte sich das Verhalten von Angelina deutlich verändert. Sie wirkte total nervös. Hatte sie Angst, dass wir das Tatoo bemerkt hatten und daraus die richtigen Schlüsse zogen? Weiter kam ich nicht in meinen Überlegungen, denn Jay und meine ehemals große Liebe kehrten zurück. Anscheinend war alles bis jetzt nach Plan gelaufen. Angelina hielt einen ziemlich großen Abstand zu den beiden. „Gab es Zwischenfälle?“ Sie schüttelte nur den Kopf. „Es war doch nicht nur Miriam, die auf dich reingefallen ist!“ Ich biss mir auf die Zunge. Ich hatte meine Gedanken nicht laut aussprechen wollen. Als ich sie gedacht hatte, waren sie auch schon über meine Lippen gekommen. Jay war einige Sekunden lang wie erstarrt, als überlegte er, ob ich es wirklich gesagt hatte. Mit der Reaktion, die nun folgte, hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Er drehte sich blitzschnell um, kam mit großen Schritten auf mich zu und zog meinen Kopf an den Haaren nach hinten. Mir entfuhr ein Schmerzensschrei. Sein Gesicht war meinem sehr nahe. „Du weißt gar nicht, wie viele Mädchen auf mich stehen…Miriam war eine von vielen gewesen, von sehr vielen, glaub mir. Ich fand es Anfangs auch toll, aber mit der Zeit ging sie mir auf die Nerven. Ich musste sie irgendwie dazu bringen, damit aufzuhören…“ Jetzt fiel es mir wieder ein…am Anfang meiner Erzählung, müsste ich es auch erwähnt haben. Ich sah Miriam wieder vor mir, wie sie eingeschüchtert und mit zahlreichen blauen Flecken da gestanden hatte. „Deshalb auch die blauen Flecke.“, antwortete ich. „Weißt du Abby, die blauen Flecke waren noch das Mindeste. Sie wollte nicht auf mich hören, also musste ich sie härter bestrafen. Es dauerte seine Zeit, bis ich sie unter Kontrolle hatte. Am Schluss hatte ich sie so weit, dass sie mich auf Knien angefleht hat, die doch in Ruhe zu lassen!“ „Ich wusste damals schon, dass etwas nicht stimmt und das ihr möglicherweise dahinter steckt!“ „Jay lass sie! Sie hat es noch nicht verdient…noch nicht.“, An mich gewandt, fügte er hinzu: „Deine Zeit wird noch kommen.“
„Nur damit du es weißt Angelina, du bleibst mit hier.“ Ihr war anzusehen, dass es ihr nicht behagte. Ihr bleib keine andere Wahl. Sie musste sich ihrem Meister fügen. Und er wusste, dass sie ihm gehorchen würde. Mädchen bzw. Frauen waren in dieser Beziehung höriger als Jungen oder Männer. Warum das so ist, brauch ich glaube ich nicht zu erläutern.
Mir war klar, dass ich noch einige Aufgaben für TBH zu erledigen hatte. Und die erste kam am nächsten Tag. Angelina kam zu mir und reichte mir einen Stift und ein paar Bögen Papier. Sie erklärte mir, dass ich einen Brief an Tante Alex schreiben sollte, in dem ich um Sebastian und Jay trauerte und ihr mein Verhalten erklärte. Der Brief sollte zudem gefühlvoll und realistisch rüberkommen. „Versuch nicht, versteckte Hinweise einzubauen. Jay liest sich das zum Schluss noch durch.“ Ich nickte nur, legte mir die Bögen zurecht und fing an zu schreiben:
 
Liebe Alex,
es fällt mir nicht leicht, dir dies zu schreiben, doch ich muss es tun. Ich kann es dir nicht ins Gesicht sagen. Ich bin unversehrt. Versprich mir, dass du mich nicht suchen wirst, auch wenn meine Mutter dich noch so sehr dazu drängen mag. Es muss schrecklich für sie sein, nicht zu wissen, was mit mir ist. Ich schreibe dir diese Zeilen nicht ohne Grund. Ich möchte und muss dir Einiges erklären. Wie du sicherlich erfahren hast, haben Sebastian und Jay sich das Leben genommen. Ich war geschockt, als ich dies erfuhr. Mein über alles geliebter Sebastian. Jetzt, wo er nicht mehr ist, stehe ich noch tief in seiner Schuld. Miene Dienste für TBH sind noch nicht getan. Wenn ich sie geleistet habe, werde ich wieder noch Hause kommen. Wann das sein wird, weiß ich noch nicht. Alex, ganz besonders du musst wissen, dass es äußerst schwierig ist aus einer Sekte auszusteigen. Sie werden es nicht akzeptieren- auch nicht wegen dir. Sie wissen davon. Ich hatte es niemandem gesagt, doch ich glaube, dass Miriam es verbreitet hat. Ich bin mir sicher, dass du mich verurteilen wirst, doch urteile nicht zu früh. Ich weiß nicht, ob du mich verstehen, oder ob du mein Verhalten nachvollziehen kannst, aber versuch es wenigstens. Meine Neugier, mehr über die andere Seite von Miriam zu erfahren, war zu stark, als das ich die Gefahr erkannt hätte, in die ich mich begeben hatte. Ich habe nicht nur mehr über Miriam erfahren, sondern auch über Jay und Sebastian. Beide haben Miriam nur ausgenutzt und sie war zu blind gewesen, um das zu erkennen.
Bitte Alex, versprich mir nochmals, dass du nicht nach mir suchen wirst.
Abigail
 
Ich kann den Brief hier 1 zu 1 wiedergeben, da Alex ihn mir nach der ganzen Sache überlassen hat, damit ich ihn in meiner Erzählung verwenden kann.
 
Während Jay sich ihn durch las, wartete ich mit angehaltenem Atem, wie er ihn aufnehmen würde. Einen konkreten Hinweis, konnte er allerdings noch nicht kennen. Es nannten mich alle nur Abby. Aber er wusste nicht, dass ich es nicht mochte Abigail genannt zu werden. Zum Glück, sonst wäre es mir möglicherweise schwerer gefallen, Fehler zu verstecken. Der Fehler, da war ich mir sicher, würde Alex sofort auffallen. Jay hatte den Brief abgesegnet und ich sollte ihn in einen Umschlag stecken und beschriften. Sie waren sehr darauf bedacht, dass nur meine Fingerabdrücke auf dem Papier waren. Jay und Sebastian hätten sich sonst verraten, würde man ihre Fingerabdrücke auf dem Papier finden. Linda beobachtete alles und als wir wieder allein gelassen worden waren meinte sie: „Hast du Hinweise versteckt?“ Ich erzählte ihr von den zwei Fehlern. Der eine, war der mit dem Namen, der andere die Passage „…Mein über alles geliebter Sebastian….“ „Und das ist ihm nicht aufgefallen?“ „Du hast ihn doch eben gesehen.“ Jetzt konnte ich nur hoffen, dass Linda und ich bald gefunden wurden, woran ich aber nicht so recht glaubte. Ich hoffte zudem auch, dass sie erkannt hatte, dass die beiden keineswegs tot waren. Einen weiteren Hinweis hatte ich in der Todesanzeige von Sebastian versteckt. Dort hieß es außerdem. „…es nehmen Abschied…in Liebe Abby…“ Dieser Hinweis war auch offensichtlich für meine Tante.
 
Ich hatte schon eine Vorahnung, was die weiteren Dienste für TBH anging. Die Befriedigung der Jungs. Angelina sollte auch daran glauben, wie Linda und ich mit ansehen mussten. Jay saß ein paar Meter entfernt von uns auf einer Kiste. Angelina lehnte etwas abseits an einer Wand. Sebastian hatte sich in den Nebenraum zurückgezogen. Ich vermutete, dass er Kontakt zu anderen Mitgliedern aufgenommen hatte. Jay warf Angelina immer wieder Seitenblicke zu. Da es ihr unangenehm wurde, wollte sie in den Nebenraum gehen. Dazu musste sie an Jay vorbei. Als sie auf seiner Höhe war, griff er nach ihrem Arm. Sie wollte ihn ihm entziehen, doch er hielt sie weiterhin fest. „Lass es Jay!“ Er riss sie herum, sodass sie ihn ansah. Er war auf sie fixiert. Er löste das Seil, das er als Gürtel trug und ließ seine Kutte von den Schultern gleiten. Er hielt sie weiterhin fest und sie sträubte sich. Er stand vor ihr, wie er geschaffen worden war. Selbst mir hatte es den Atem genommen. Miriam, Linda und ich hatten unter unseren Gewändern noch Shirt und Hose getragen. Er schien wahrscheinlich täglich so herumzulaufen. Es war offensichtlich, was er von ihr wollte. Sie wusste ganz genau, dass ihr Schicksal besiegelt war. Er drängte sie in eine Ecke. Sie gab ängstliche Schreie von sich, die ich, jetzt wo ich daran denke, noch heute höre. Es war so grauenvoll das mit anhören zu müssen. Nichts tun zu können. Wir mussten gnadenlos dabei zusehen.

„Angelina, du weißt, was der Allmächtige einst sagte. Leiste diene Dienste gegenüber deinem Meister, zu dessen vollster Zufriedenheit.“ Das war einer der Sätze aus unserem Kodex. Jeder hatte ihn eingeschärft bekommen. Angelina wusste es genauso wie ich. Den Kodex bewahrte Sebastian bei sich auf. Es war ein ziemlich dickes Werk gewesen. Alle Verse aus dem Kodex kannten nur die schwarzen Kuttenträger. Sie durften beim Guru auch um Einsicht in den Kodex bitten. Sie waren die einzige Ausnahme! Ich fragte mich, ob Sebastian den Kodex jetzt dabei hatte.
Jay war mit Angelina fertig. Er griff zu seiner Kutte und zog sie wieder über. Dabei sah er Linda und mich, an, sodass wir für wenige Augenblicke seine Frontseite im Blick hatten. „Auch ihr solltet nach dem Leitsatz handeln. Bald seid ihr auch an der Reihe eure Dienste weiter abzuleisten, aber er will euch noch Zeit lassen. Er hofft darauf, dass ihr eure Dienste selbst anbietet.“
Pah. Träum weiter. Eher würde ich mich selbst umbringen, als das ich meinen Ex….bäh. Ich bekam schon Ausschlag, wenn ich nur daran dachte. „Das glaubt aber auch nur er.“ „Tja Abby, du kennst ihn doch.“ Und wie ich ihn kenne. „Sag ihm dass ich nicht freiwillig, die Dienste ableisten werde. Lieber würde ich so enden, wie Miriam.“ „Du bist nicht befugt, mir Befehle zu erteilen!“ Seine Stimme hallte laut durch den Raum. Angelina war in der gegenüberliegenden Ecke zusammengezuckt. „Das kannst du ihm auch selbst ins Gesicht sagen.“ Er wandte sich um und war schon an der Tür, um Sebastian zu holen, da mischte sich Linda ein. „Das Gleiche gilt auch für mich!“
Sebastian war wütend, da er gestört worden war und das ließ er uns alle spüren. Mir sank auf einmal der Mut, es ihm ins Gesicht zu sagen. Seine Augen wirkten bedrohlich und einschüchternd. Ich bekam keinen Ton heraus. „Was wolltet ihr mir sagen?“ „Wir…wir machen nicht mehr mit.“, sagte ich mit leiser zitternder Stimme. „Abby, das interessiert mich nicht! Ihr habt mir zu gehorchen, wie alle anderen auch. Wenn ihr es nicht tut, dann weißt du, was dir blüht.“ Er drehte sich wieder um, gab Jay einen Befehl und ging wieder in den Nebenraum. Angelina blieb die weitere Zeit ängstlich zusammen gekauert in der Ecke sitzen. Jay beobachtete Linda und mich. „So saß sie am Ende auch da und hat gezittert. Genau wie ihr drei jetzt.“ Es tat weh, wenn er Miriams letzte Tage, Wochen Monate so beschrieb. „Anfangs haben wir uns echt gefreut uns auf den Treffen wieder zu sehen. Nach den Treffen sind wir noch stundenlang in der Ruine geblieben. Es war echt wunderschön. Als ihr kamt, hab ich sie mit euch gehen lassen, damit ihr nichts von uns mitbekommt. Als ihr dann nicht zu den Treffen eingeladen wart, hab ich sie gezwungen mit mir da zu bleiben und sie hat sich ihrem Schicksal ergeben. Ihr habt wenige Tage danach bereits Verdacht geschöpft. Das hat sie mir unter Tränen berichtet, als ich sie dazu zwang.“ Er wurde unterbrochen, als die Tür zum Nebenraum aufging und Sebastian zu uns kam. „Jay, kannst du was zu Essen vorbereiten. Ich denk die Mädchen haben Hunger.“ „Klar mach ich sofort.“ Und schon war Jay aufgestanden und zusammen mit Sebastian im Nebenraum verschwunden. „Hat er das schon öfter mit dir gemacht?“, die Frage war an Angelina gerichtet. Sie hob leicht den Kopf und sah mich aus tränennassen Augen an. „Er hat es mit allen Mädchen gemacht, die dachten, er wäre in sie verliebt. Dieses verdammte A**********.“ Würden die Jungs uns noch weitere Sachen offenbaren oder war dies schon alles, was sie uns erzählen wollten? Angelina schwieg nun eine Weile und Linda und ich taten es ihr gleich. Es wurde langsam unbequem auf dem harten Boden zu sitzen. Ich lauschte auf Geräusche aus dem Nebenraum. Ich hörte Stimmen. Sebastian telefonierte anscheinend. Er sprach jedoch so leise, dass ich nicht verstehen konnte, um was es ging. Was plante er? Plante er überhaupt etwas? Hatte er sich mit den schwarzen Kuttenträgern in Verbindung gesetzt? Die Tür öffnete sich und Jay kam zurück. Er hielt ein silbernes Tablet in der Hand, wie es auch bei dem Mahl in der Ruine benutzt worden war. Er stellte es behutsam auf der Erde ab und ging dann zu Linda, um ihr die Fesseln zu lösen. Fliehen war zwecklos. Der Raum indem wir uns befanden hatte nur eine Tür und hinter der saß mein Ex. Keine erfreulichen Aussichten für eine Flucht. Jay half Linda aufzustehen. Wie schon in der Ruine war das Essen spartanisch. Es gab nur Brot und Wasser. Wir aßen und tranken gierig, da wir seit dem Morgen nichts mehr gegessen hatten. Als Angelina gerade ihren Becher geleert hatte, kam Sebastian wieder zu uns. „Ja stärkt euch nur. Morgen braucht ihr Kraft für die Wanderung.“ „Wo bringst du uns hin?“ Er lächelte nur und antwortete nicht. Stattdessen setzte er sich uns gegenüber auf die Holzkiste. Jay brachte das Tablett wieder weg und kam dann mit zwei normalen Kutten zurück. „Zieht sie euch an. Es wird kalt in der Nacht.“ Er warf sie uns zu. Während ich mir die Kutte über warf, beobachtete Jay mich. Ich hatte wieder das komische Gefühl wie damals, als wir in der Ruine an dem Tisch gesessen hatten. „Dort drin ist Stroh. Ihr werdet dort schlafen.“ Er zeigte auf die Tür. Linda und ich sahen uns unsicher an. „Nun komm schon.“ Ja schubste mich leicht nach vorn. Zögerlich ging ich auf die Tür zu. Der Raum war etwas größer, als der, in dem wir festgehalten worden waren. Neben der Tür stand ein einfacher Holztisch auf dem ein Handy und Pergament, sowie ein Tintenfass und eine Feder lagen. Im hinteren Teil des Raumes war Stroh angehäuft worden. Ich konnte keine weitere Tür erkennen. Wir gingen bis in den hinteren Teil des Raumes. „Hinlegen und klappe halten!“, war der strenge Befehl, der darauf folgte. Linda, Angelina und ich kamen der Aufforderung ohne zu zögern nach. In der Nacht konnte ich kein Auge zu machen und so viel ich mitbekam, ging es Linda ähnlich. Wir hatten einfach zu viel Respekt und Angst vor Jay und Sebastian.

 Fortsetzung vom 20.02.10

7. Zuflucht
Am nächsten Morgen wurden wir sehr früh und unsanft geweckt. Es gab nur Wasser und Brot. Etwas anderes hatten sie wahrscheinlich auch nicht dabei. Die Jungs sprachen nicht viel in unserer Gegenwart. Angelina verhielt sich Linda und mir gegenüber wieder distanziert. Wahrscheinlich hatte sie Anweisungen diesbezüglich erhalten und wagte es nicht noch einmal sich zu widersetzen. Wir verließen unser Versteck über eine Leiter hinaus. Die Sonne war gerade am Aufgehen und es war noch recht kühl. Ich blieb so nahe wie möglich bei Linda. Die Jungs achteten darauf, dass wir uns nicht zu weit von ihnen entfernten. (Was wir auch nicht taten, da wir nicht wussten, wo wir uns befanden.) Angelina ging zwischen Jay und Sebastian. Ihr war anzusehen, dass sie sich zwischen den beiden nicht wohl fühlte. „Was glaubst du, wo gehen wir hin?“, fragte Linda mich. Wir waren die ganze Nacht unter Beobachtung gewesen, sodass sie keine Möglichkeit gehabt hatte, mich dies zu fragen. „Ich weiß es nicht.“, antwortete ich. Ich wusste es wirklich nicht. „Aber du kennst Sebastian.““Linda, wir dachten auch, dass wir Miriam kennen, aber wir haben uns getäuscht.“, gab ich zurück. Daraufhin schwiegen wir beide. Der Schmerz war noch nicht überwunden. Ich hatte mittlerweile die Hoffnung aufgegeben, dass Tante Alex uns finden würde. Wir liefen sehr lange und sprachen kaum etwas. Ich zerbrach mir die ganze Zeit den Kopf darüber, was unser Ziel war, kam jedoch zu keinem Ergebnis. Als wir endlich eine Pause einlegten, hatte die Sonne bereits ihren Zenit-Stand erreicht. Jay verteilte Brot. Danach bekam jeder einen kleinen Flachmann mit Wasser für den Rest der Reise. Die Pause dauerte jedoch nicht sehr lange. Wir überquerten zahlreiche Felder. Meine Füße taten weh. Bald klagte auch Linda, dass sie nicht mehr weiter konnte. Jetzt hätte ich mir am liebsten vier Hufe unter dem Körper gewünscht.
Jay und Sebastian waren jedoch gnadenlos und scheuchten uns weiter. Als die Sonne im Westen angelangt war und meine Füße nur noch aus Schmerzen zu bestehen schienen, erreichten wir ein eisernes Tor. Sebastian schloss es auf und wir traten ein. Wir folgten einem gewundenen Feldweg entlang und kamen zu einem, in einen Felsen gehauenen Eingang. Davor standen zwei schwarze Kuttenträger. Sie hatten die Kapuzen ins Gesicht gezogen, sodass ihre Gesichter verborgen blieben. Sie standen starr wie Statuen. Als wir näher kamen, verbeugten sie sich. Mir fiel auf, dass sie ziemlich groß waren und ich war mir sicher, dass sie niemals 18 oder 19 waren.
Es war erstaunlich, dass sie so schnell einen Ersatz zur Ruine auf dem Drachenfels gefunden hatten. Einer der Kuttenträger trat vor und sprach Jay an: „Du wirst erwartet. Sie haben eine Menge Fragen.“ „Danke.“ Er trat von Jay zurück, öffnete die Tür und wir konnten eintreten. Mir war neu, dass die Obersten Jay duzen durften. Obwohl...Jay stand eine Stufe niedriger als sie. Vielleicht war es doch gesetzeskonform und wurde nicht bestraft.
Der Geruch von Pferden und Pferdemist drang mir in die Nase. Wir gingen einen langen Gang entlang, der von Fackeln erleuchtet wurde. An dessen Ende erreichten wir eine kuppelartige Höhle. Es herrschte reges Treiben, dass durch unsere Ankunft jäh unterbrochen wurde. Mir kam es so vor, als ob alle Augen auf mich gerichtet waren, dass alle mich wiedererkannten bzw. dass alle wussten, wer ich war. Dann knieten alle nieder. Sebastian ging langsam in die Mitte. Es erweckte den Eindruck, als wolle er gleich eine Zeremonie abhalten. Jay hielt Linda und mich zurück. Wir waren unsicher, wie wir uns verhalten sollten. Sollten wir ebenfalls niederknien? Jay erweckte nicht den Eindruck, als würde er uns gleich auf die Knie zwingen. Ich war mir auch nicht sicher, ob ich vor Sebastian noch einmal niederknien würde. Alle Anwesenden standen wieder auf. Wer sich noch in der Mitte der Höhle befand, wich bis an den äußersten Rand der Höhle zurück, sodass ein Kreis entstand.
Nun drängte Jay uns in die Mitte zu Sebastian. Zwei schwarze Kuttenträger traten aus dem Kreis hervor und kamen auf uns zu. Sie nahmen erst Sebastian und dann Jay die dickeren Kutten ab. (Sie hatten während der Reise jeweils zwei Kutten getragen). Sebastian begann seine Ansprache: „Jetzt sind wir wieder vereint Freunde. Vereint in unserem ursprünglichen Kern an unserem Ursprungsort. Wir sind wieder vereint, auch wenn einige unserer Gefährten untertauchen mussten. Der Auslöser dafür ist heute hier unter uns.“ Daraufhin setzte leises Gemurmel ein. Er machte eine bewusste Pause, da war ich mir sicher. Er unterband auch das Gemurmel nicht sofort, was unüblich war. Auch hier vermutete ich Absicht dahinter. Ich spürte wieder viele Blicke auf mir. Sebastian fuhr nun in seiner Rede fort:
„Ihr wisst, dass alle Regeln, die in der Ruine aufgestellt waren, auch hier ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Das oberste Kommando haben immer noch ich und Jay, als mein Stellvertreter.“ Das war also die offizielle Rangordnung. Ich war so blind gewesen. Natürlich war Jay sein Stellvertreter. Miriam hatte in ihrem Tagebuch erwähnt, dass sich Jay und Sebastian schon länger kannten.
Miriam, für sie hatten wir mehr Infos gesammelt und wollten dies auch weiter tun. Jay und Sebastian sollten ihre gerechte Strafe bekommen. Genau das war der Grund dafür, weshalb wir freiwillig mit Jay mitgegangen waren und nicht zu Tante Alex. Bei der Polizei würden beide mit Sicherheit nicht alle Informationen herausrücken. Sie würden auch nicht alle ihrer treuesten Mitglieder verraten. (Was selbst Linda und ich nicht konnten). Sie würden darauf hoffen, nach ein paar Jahren wieder freigelassen zu werden, um dann mit den übrigen treuen Mitgliedern neu anzufangen. Ich verspürte Schmerzen im Knie. Jay hatte uns doch auf die Knie gezwungen. Ich sah starr auf den Boden, da ich Sebastian nicht die Gelegenheit bieten wollte, dass ich zu ihm aufsehen musste. Er redete immer noch zu den Umstehenden. Ich hörte nicht zu. Meine Gedanken kreisten wieder. Der Kreis wurde aufgelöst. Linda und ich konnten wieder aufstehen. „Du kommst mit mir.“, wies Jay mich an. Linda sollte bei Sebastian bleiben. Mir war gar nicht wohl bei dem Gedanken, dass wir getrennt wurden. Jay löste das Seil, was die Kutte um seine Hüften hielt. „Mach die Hände zusammen!“ Ich streckte ihm meine Hände entgegen. Er fesselte sie vor meinem Körper. Dann nahm er das Ende in die Hand und ging mit mir durch die Höhle. Wieder hatte ich den Eindruck, als ob alle Blicke mir folgen würden.
Hinter der Höhle befand sich ein weiterer Gang. Ich merkte, dass uns einige Mitglieder folgten. Von dem Gang zweigten kleinere Höhlen ab. Eine betrat er und unser Gefolge kam nach. In der Höhle angekommen, lies er das Ende des Seils los und suchte sich ein neues, welches er um seine Hüften binden konnte. Daran befestigte er das Ende des Seils, was meine Hände fesselte. Na super! Jetzt musste ich ständig hinter ihm hinterher laufen. Nachdem er dies getan hatte, setzte er sich auf einen großen Stein, der in einer Ecke stand. Ich kniete mich neben dem Stein auf den Boden. Vor uns standen Oberjünger, erkennbar an ihren langen dunkelblauen, fast schwarzen Kutten. Sie hatten sich in einem Halbkreis vor uns aufgestellt. „Mir wurde mitgeteilt, dass ihr ein paar Fragen an mich habt.“, sprach er sie an. Ein Oberjünger links von mir fiel auf die Knie. Die Geste war üblich, wenn man ein Anliegen an Höhergestellte hatte. „Herr, die Lebensmittel werden knapp. Ich bitte um Erlaubnis heute mit ein paar Gefährten einen neuen Vorrat zu beschaffen.“ Die Stimme des Jungen hatte den Stimmenbruch bereits hinter sich. Er war mit Sicherheit einer der Älteren. Jüngere hatten erst gar keine Chance auf einen Aufstieg. „Angenommen. Ihr wisst, worauf ihr dabei zu achten habt.“, war die knappe Antwort von Jay. „Ja Herr.“ Er stand wieder auf. Der nächste fiel auf die Knie. „Herr, es ist erfreulich, Euch wieder unter uns zu haben.“ Ich hatte den Eindruck, dass dieser Jünger kein wirkliches Anliegen hatte, sondern sich nur bei Jay einschleimen wollte. Diesen Eindruck musste Jay auch gehabt haben. „Schweig, wenn du mir nichts weiter zu berichten oder keine Frage an mich hast!“ „Verzeihung Herr. Ich wollte nicht unhöflich sein. Wird das Studium des Kodex weiter fortgeführt?“ Er musste ein Anwärter auf den folgenden Posten gewesen sein. Nur die Oberjünger, die kurz vor ihrer Zeremonie standen, bekamen ein intensives Studium des Kodex. „Wenn die Zeit gekommen ist ja. Bis dahin, hast du dich weiterhin an meine Anweisungen zu halten und unsere Regeln zu befolgen. Insbesondere die, die die Befehlsgewalt beinhalten.“
Ich beobachtete Jay. Er blickte jeden der Anwesenden der Reihe nach an. Es war nur ein einziges Mädchen unter ihnen. Sein Blick ruhte die längste Zeit auf ihr. Sie spürte seinen Blick und wurde leicht verlegen. Es war eindeutig, dass er diesem Mädchen den Kopf verdreht hatte. „Wenn ihr keine weiteren Anliegen habt, dann lasst uns jetzt allein.“ Sie verneigten sich allesamt und gingen dann hinaus. Das Mädchen zögerte etwas. „Gibt es noch etwas?“, fragte er sie. Sein Tonfall war immer noch streng. „Jay..“ ,fing sie an, doch er fuhr ihr über den Mund. „Wo bleibt dein Respekt?!“ Sie fuhr zusammen, als ob sie einen Peitschenhieb bekommen hätte. „Ich...es tut mir Leid Herr.“, erwiderte sie schüchtern. „Ich...wollt nur sagen dass...dass ich jeden Tag für Sie gebetet habe und dass ich für neue Aufgaben bereit bin.“ „Schön. War es das jetzt?“, fragte er sie. Das Mädchen war nun total verunsichert von der Abweisung und eilte schnell davon, ohne sich noch einmal zu verbeugen. Er musste meine Reaktion auf das Mädchen mitbekommen haben. „Emily war eben genau so wie Miriam damals.“ „Hör auf.“, zischte ich. Ich wollte in dieser Situation so wenig wie möglich über Miriam hören. Die Jungs ließen doch nur negative Bemerkungen über sie fallen. Außerdem fiel es mir schon schwer in der Gegenwart der Gruppe nicht an sie zu denken. Es versetzte mir immer noch einen Stich ins Herz. Sie hatte uns hierher geführt, ohne zu wissen, das die Gruppe später für ihren Tod verantwortlich sein würde. Jetzt mussten Linda und ich es zu Ende führen...für sie.
„Abby, sei doch nicht so. Jetzt haben wir wenigstens unsere Ruhe.“ Er beugte sich zu mir und zog mich zu sich heran. „Küss mich. Denk an den Kodex.“, raunte er mir ins Ohr. Hatten sie mich schon ausgestoßen, oder galt ich noch als degradiertes Mitglied? War ich ausgestoßen, brauchte ich mich nicht mehr an den Kodex zu halten. Er merkte mein Zögern. „Abby, du bist immer noch Mitglied unserer Gruppe!“, antwortete er, als könne er meine Gedanken lesen. Er küsste mich zuerst auf die Wange. Als seine Lippen sich den Meinen näherten und ich immer noch keine Anstalten machte seinen Kuss zu erwidern, wurde er zornig. Er zog meinen Kopf schmerzhaft nach hinten. Ich öffnete meine Lippen, um einen Schmerzensschrei aus zustoßen. Im nächsten Augenblick hatte ich seine Zunge im Hals. Ich wehrte mich und trat um mich. Nach kurzer Zeit ließ er von mir ab. In seinen Augen konnte ich lesen, dass er verstimmt war. „Du wirst uns hier keinen Ärger machen verstanden?!“ Ich nickte. Von irgendwo her ertönte ein Gong. Jay stand auf und ging mit großen Schritten zum Ausgang. Ich folgte ihm strauchelnd.
Wir entfernten uns weiter von der Haupthöhle. Immer tiefer in das Geflecht aus Höhlen hinein. Vor und nach uns gingen weitere Mitglieder. Am Ende des Ganges befand sich eine weitere Höhle, in der sich schon einige schwarze Kuttenträger befanden. Ich entdeckte auch Linda und ganz in ihrer Nähe Sebastian. Linda sah unversehrt aus und ich bekam mit, wie auch sie mich musterte und nach möglichen Verletzungen suchte. Die Erleichterung war ihr ins Gesicht geschrieben, als sie keine Verletzungen entdecken konnte. Jay setzte sich in die Nähe von Sebastian auf den Boden. Sitzmöglichkeiten gab es keine und der Boden war nicht gerade bequem. Die Oberjünger gingen die Reihe entlang und verteilten Schalen. Linda und ich bekamen ebenfalls eine Schale gereicht. Sie war mit Suppe gefüllt, die wir aus der Schale tranken. Mit gefesselten Händen gestaltete dies sich etwas schwierig, doch ich schaffte es, die Schale einigermaßen gerade zu halten. Nach dem langen Marsch und dem trockenen Brot war eine warme Suppe schon ein Luxus. Das Essen verlief auch hier wieder schweigend und die Atmosphäre war angespannt. Nachdem die meisten ihre Schüsseln geleert hatten, blieben wir noch eine Weile sitzen. Ich sah ab und zu zu Linda hinüber. Sie saß reglos neben Sebastian.
Einige der Anwesenden schienen mit ihren Gedanken an einem andern Ort zu sein, manche waren in ein Gebet vertieft oder saßen reglos auf ihrem Platz. Sie wagten es nicht aufzustehen, bevor Sebastian das nicht tat. Er ließ uns lange warten, bis wir unsere Plätze verlassen durften. Vielleicht tat er dies nur aus Rücksicht auf die Gebete. Sebastian bedeutete allen, dass sie die Runde verlassen durften. Die Oberjünger sammelten die Schalen wieder ein und Sebastian kam mit Linda zu uns herüber. „Ihr werdet heute mit euren Diensten gegenüber dem Allmächtigen beginnen. Ihr werdet dabei streng kontrolliert, ob ihr euch auch an unsere wichtigsten Grundsätze haltet.“ Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen, dass garantiert nicht von der Suppe kam. Er ging mit Linda voraus und Jay und ich folgten ihnen durch den Gang zurück.
Unser Ziel war eine kleinere Höhle, in der Oberjünger an Holzpulten saßen und mit Schreibfedern auf Pergament schrieben. Als wir eintraten, hielten sie kurz mit ihrer Arbeit inne. Sie waren nicht älter als 17. Jay ging zwischen ihnen hindurch und sah sich das jeweilige Schriftlid an. Er schien mit den Ergebnissen zufrieden zu sein, denn er ging an jedem kommentarlos vorüber. Jeder Oberjünger hatte einen Stapel Pergament vor sich liegen. Das jeweilige obere Blatt war fein säuberlich beschrieben. Im Vorbeigehen konnte man jedoch keine Einzelheiten erkennen. Sie wandten sich wieder ihrer Arbeit zu. Im hinteren Teil der Höhle bogen wir nach rechts ab, in einen Durchgang, den man vom Eingang aus nicht gesehen hatte. Dahinter befand sich eine weitere Höhle, in der ein schwarzer Kuttenträger saß und sich Pergamentseiten durch las. Offensichtlich waren es die Arbeiten der Oberjünger, die gerade schrieben. Auch diese Höhle wurde von Fackeln erleuchtet, die an den Wänden befestigt waren. Als er uns bemerkte, erhob er sich kurz und verneigte sich. „Du wirst die beiden unter deine Kontrolle nehmen, so wie wir es abgesprochen haben.“ Er nickte. Jay führte mich zu einem Pult auf der linken Seite. Linda wurde von Sebastian auf der Rechten Seite entlang an das Pult geführt. Dort lagen schon Feder, Tinte und Pergament bereit. „Ich komm später wieder und kontrolliere die Seiten.“, hörte ich Sebastian noch sagen. Dann verließen die beiden die Höhle wieder. Der schwarze Kuttenträger kam zu uns und legte jeweils ein paar Bögen handelsübliches Papier auf die Pulte. „Ihr schreibt mir jetzt alle Artikel des Kodex auf, die ihr könnt.“, war die Knappe Anweisung. Ich nahm die Feder in die Hand, tauchte sie in das Tintenfass und begann zu schreiben.
 
8. Die Ermittlungen beginnen
Ein paar Kilometer entfernt in München im Kommissariat der dort ansässigen Polizei, hatte die Tante von Abby, Alexandra Rietz, gerade ihre Schicht begonnen. Sie und ihre Kollegen arbeiteten an einem Fall, der ihnen durch Abby angetragen worden war. Abby war durch ihre Freundin Miriam in eine Sekte gekommen, die nun ihr wahres Gesicht gezeigt hatte. Miriam war ums Leben gekommen, da sie den Guru sehr verärgert hatte. Abby hatte sofort reagiert und hatte ihrer Tante und deren Kollegen im Beisein von Linda alles erzählt.
In diesem Moment kam ein Kollege von Alex, Branco Vukovic, ins Büro und überreicht Alex einen Brief. „Der ist gerade für dich abgegeben worden.“ Es war kein Absender auf dem Umschlag angegeben. Sie zog sich sicherheitshalber Handschuhe an, bevor sie ihn öffnete. Sie überflog den Inhalt und wandte sich dann an ihre Kollegen. „Der Brief ist von Abby.“ Ihre Kollegen horchten auf und lasen sich den Brief selbst durch. „Der ist gestellt.“, war ihre Reaktion darauf. „Sie würde niemals um Sebastian und Jay trauern. Nicht nach alldem, was ihr und ihren Freunden von den beiden angetan wurde.“ „Da geb ich dir Recht.“, stimmte Michael ihr zu. Sie ist dazu gezwungen worden den Brief zu schreiben. Demzufolge muss sie noch in der Gewalt von den beiden sein.“ „Ich bring den Brief ins Labor. Vielleicht finden wir ja Fingerabdrücke.“, bot Gerrit sich an und brachte den Brief, nachdem Alex ihm diesen gegeben hatte, ins Labor. Die Kommissare erhofften sich von dem Ergebnis jedoch nicht viel. Jay und Sebastian wussten, dass Alex bei der Polizei war und sie waren nicht so doof und hinterließen, gerade auf so einem Brief, Fingerabdrücke. Die Kommissare waren darüber informiert, dass es Abby und Linda noch gut ging. Den genauen Aufenthaltsort von den beiden wussten sie jedoch nicht. Sie wussten auch nicht, ob die beiden noch am Leben waren. Die Informanten hatten sich seit einer Woche nicht mehr gemeldet und Linda und Abby waren zu hundert Prozent nicht zu Hause. Abbys Mutter hatte am gestrigen Tag angerufen und berichtet, dass Abby am Abend nicht nach Hause gekommen war. Es wurde vermutet, dass sie im Moment noch mit Linda zusammen war. Die Kommissare hofften, dass die Informanten sich bald meldeten. Bis es zum entscheidenden Zugriff kam, dauerte es vermutlich nicht mehr lange. Sie mussten nur noch warten, bis die Sekte einen Fehler machte und sie ihnen mehr anhängen konnten, um die Gruppierung hochgehen zu lassen.
Die Informanten würden sich in ein paar Tagen nicht mehr melden können. Davon wusste man im Kommissariat jedoch nichts. Insgesamt waren drei Informanten vor längerer Zeit in die Sekte eingeschleust worden. Zwei von ihnen hatten sich den Rang eines schwarzen Kuttenträgers erarbeiten können. Dies hatte seine Zeit gedauert und es hatte sie sehr viel Kraft gekostet. Die oberste Zeremonie war ein enormer Kraftakt gewesen. Sie hatten heute noch die Blasen an den Schienbeinen und den Fußsohlen. Nach der Zeremonie hatte es ein großes Mahl gegeben, an dem alle schwarzen Kuttenträger, sowie sie teilgenommen hatten.
Das Mahl hatte in einer Gruft unter der Ruine stattgefunden, die von Fackellicht erhellt wurde. Sie hatte etwa die Größe des großen Saals. An der einen Seite stand ein Altar, dessen Zentrum ein Portrait mit einem schwarzen Pferd darstellte. An der gegenüberliegenden Seite befand sich ein langer hölzerner Tisch. Drumherum waren Stühle positioniert, die aufwändige Verzierungen aufwiesen. In einer langen Prozession hatten sie den Zeremonieplatz hinter dem Guru verlassen, nachdem dieser die Zeremonie aufgelöst hatte und waren hinunter in die Gruft gestiegen. Den Gang kannten nur die schwarzen Kuttenträger, kein anderes Mitglied hatte davon Kenntnis. Es folgte ein Gebet, welches nur zu diesem Anlass zelebriert wurde. Es war im Kodex festgeschrieben, den der Guru vor sich liegen hatte. Die Informanten bekamen ihre Plätze an der Tafel zugewiesen, die, wie von ihnen nicht anders erwartet, weit weg vom Guru waren. Aufsteiger lies er grundsätzlich nicht so nahe an sich heran, wie diejenigen, denen er am meisten vertraute. Es gab viel süßen Wein und Schwein am Spieß. Eigentlich hatten sich die Informanten vorgenommen, nicht zu viel Wein zu trinken, doch das war nicht möglich. Es wurde mehrmals angestoßen und der Wein war stark. Ablehnen konnten sie das Getränk auf keinen Fall. Vor jedem standen außer dem Weinkelch auch ein Kelch mit klarem Wasser und ein kleinerer Kelch mit einer roten Flüssigkeit. Sie waren rund um die Uhr unter Beobachtung und konnten es nicht vermeiden, den kleinen Kelch auszutrinken.
 
Die Kommissare hatten schon von The black Horse gewusst, bevor Abby und Linda zu ihnen gekommen waren. Sie hatten es den Mädchen gegenüber bewusst verschwiegen, falls sie noch einmal in die Fänge der Jungs geraten sollten, so wie es jetzt der Fall war. Nicht mal die Eltern von Abby und Linda wussten davon.
Der dritte Informant war auf der gleichen Stufe wie Abby, er war ein einfacher Jünger und das war auch gut so, denn so hatte er Abby auch bei den Zeremonien und den Jüngertreffen im Auge gehabt und hatte Alex fast alle Vorkommnisse berichten können, außer den Tod von Miriam. Er hatte sich seinen Posten leichter verdient, als die Informanten, die jetzt zu den Oberen gehörten. Er hatte ziemlich schnell das Vertrauen von Jay gewonnen und es bis jetzt auch nicht verloren.
 
Jetzt saßen die höchsten Informanten zusammen mit den anderen schwarzen Kuttenträgern in einer der Höhlen. Manche von ihnen hatten Aufgaben bekommen, wie das Überwachen des Kodexstudiums. Dabei schrieben die Oberjünger Textpassagen des Kodex ab, um sie so zu verinnerlichen. Diese Aufgaben bekamen meistens nur ein oder zwei von den Oberen aufgetragen. Sie wussten im Moment nicht, wo Linda und Abby sich genau in dem Höhlenkomplex befanden und was für eine Aufgabe die beiden Mädchen hatten. Der Guru und Jay waren nach dem Essen mit den beiden verschwunden und später ohne sie wieder in der Höhle erschienen.
Obwohl die Informanten eine so hohe Stellung inne hatten, zählten sie noch lange nicht zum innersten Kreis, der sich um den Guru scharrte. Sie würden es auch nie sein, das spürten beide. Wenn sie ihrem Meister gegenüberstanden, hatte dieser eine ablehnende Haltung ihnen gegenüber. Sie konnten es sich nicht erklären. Sie hatten alle Regeln befolgt, hatten gebetet und waren nicht negativ aufgefallen. Sonst wären sie nie so weit aufgestiegen. Beide hatten die Kapuzen ihrer rabenschwarzen Kutten aufgesetzt und unterhielten sich flüsternd. Sie saßen etwas abseits von den anderen, damit diese ihrem Gespräch nicht lauschen konnten. „Wir müssen heute mit Alex in Verbindung treten. Die vier fragen sich bestimmt schon, warum wir uns nicht melden.“ „Das ist zu riskant. Wir haben hier erstens kein Netz und zweitens gibt das einen Höllenärger, wenn wir erwischt werden. Dann können wir unseren Rang vergessen. Du hast selbst gesehen, was damals mit Abby geschehen ist. Wir stehen weit höher als sie damals und wenn wir uns einen Fehler erlauben, werden wir nicht einfach mit einer Degradierung davon kommen, wie sie. Dann können wir das Ganze hier vergessen.“ Sein Gegenüber wollte gerade noch etwas erwidern, als der Meister persönlich in die Höhle kam, direkt auf die beiden zu. Sie bleiben auf den Knien sitzen, als Zeichen der Unterwürfigkeit. „Ihr löst die Wachen jetzt ab!“ Sie nickten, erhoben sich und gingen Richtung Ausgang. Der Meister wartete, bis sie aus der Höhle gegangen waren und wandte sich an die Anderen. Was ihnen genau aufgetragen wurde, konnten die Informanten nicht mehr verstehen.
Sie gingen zielstrebig in Richtung Ausgang. Vor der Höhle, konnten sie sich vielleicht etwas unterhalten und kurz Kontakt zu den Kommissaren aufnehmen. Außerdem waren sie draußen so gut wie unbeobachtet und konnten ihren Job am Ausgang etwas vernachlässigen. Die Regel sah vor, die ganze Wache lang zu stehen, doch kaum jemand hielt sich an diese Regel, da dies unmöglich zu schaffen war. Durch das Echo, das der Gang hinaus warf, hörte man schon lange, dass jemand kam, bevor man denjenigen überhaupt sah. So konnten sie sich zwischendurch auf dem trockenen Boden niederlassen. Sie hatten den Ausgang erreicht. Links und rechts standen die Wachen, starr wie Statuen. Es war erstaunlich, wie viel Körperbeherrschung manche Leute aufbrachten. Sie warteten lange, bis die Schritte ihrer „Brüder“, wie sie sich auch untereinander nannten, verklungen waren. Der eine der Informanten hatte schon das Handy in der Hand. Das Freizeichen war ertönt und ein paar Sekunden später, hatte er Alex am anderen Ende. „Sie sind beide bei uns. Ihn geht es gut. Wir wissen nicht, was er mit ihnen vorhat.“ Alex konnte nichts erwidern, da war die Leitung schon unterbrochen. Die Gespräche wurden bewusst kurz gehalten, damit jemand anderes sie nicht abhören und verfolgen konnte.
Alex hatte ihren Kollegen von dem Telefonat erzählt und die Kommissare waren froh, dass die Mädchen bis jetzt noch nicht getrennt worden waren und die Informanten immer noch in der Nähe eingesetzt wurden. Sie hatten durch sie auch erfahren, dass manche der obersten schwarzen Kuttenträger auf Patrouillen geschickt wurden oder um Lebensmittel zu beschaffen. Auf so einen Marsch waren die Informanten noch nicht geschickt worden. Sollte es einmal dazu kommen, dass alle drei Informanten auf eine gemeinsame Patrouille geschickt wurden, hatten die Kommissare ein Problem. Dann war Niemand mehr in der Nähe, der auf die Mädchen aufpassen konnte.
 
Fortsetzung vom 24.04.10
9. Der Kodex
In der ganzen Zeit, die ich Mitglied bei TBH war, hatte ich viele Artikel unseres Kodex gelernt. Die Artikel, die ich gleich am Anfang gelernt hatte, kenne ich heute noch. Es wurde von einem Mitglied nicht verlangt, dass es alle Regeln beherrschte. Die schwarzen Kuttenträger waren die einzigen, die um Einsicht in den Kodex (dem original Buch) bitten konnten. Die anderen Mitglieder bekamen Abschriften zu sehen, wie Linda und ich sie jetzt anfertigen sollten. Von den Neuen wurde verlangt, dass sie die wichtigsten Artikel befolgten. Ich hatte den Kodex bisher einmal zu Gesicht bekommen. Das Buch hatte eine Dicke von knapp 10 cm und war in Leder gebunden. Ich konzentrierte mich wieder auf mein Blatt vor mir und las mir durch, was ich bis jetzt geschrieben hatte:
 
Artikel 1: Leiste die Dienste gegenüber deinem Meister zu dessen vollster Zufriedenheit.
 
Artikel 2: Verschwiegenheit über die Zeremonien ist das oberste Gebot.
 
Artikel 3: Bete mindestens zweimal am Tag zum Allmächtigen.
 
Artikel 4: Die Rangfolge, sowie die Befehlsgewalt sind bei dem Zeremonien strengstens zu beachten.
 
Artikel 5: Achte deine Brüder und Schwestern.
 
Artikel 6: Bei Nichterscheinen, folgen Mahnungen und später harte Konsequenzen die zum
Ausschluss aus der Gemeinschaft führen können.
 
Artikel 7: Während der Zeremonien ist Achtsamkeit gefordert. Gespräche sind gänzlich
untersagt.
 
Artikel 8: Halte den respektvollen Abstand gegenüber deinem Meister ein, der deinem Rang
würdig ist.
 
Artikel 9: Das Reiten, ist nur den Oberen gestattet.
 
Es war bis jetzt nicht viel, das wusste ich, doch es gab die eine oder andere Regel, mit der ich anfangs Probleme gehabt hatte, besonders wenn Jay in meiner Nähe war. Der erste Artikel zum Beispiel. Ich hätte nie gedacht, dass jemand von der Gruppe diesen Artikel so auslegen und somit seine Macht missbrauchen könnte. Von Jay hatte ich dies ja gleich beim ersten Jüngertreffen erfahren. Es hatte mich ziemlich schockiert und seitdem fühlte ich mich in seiner Nähe mehr als unwohl. Dass Jay so mit mir umgegangen war, wusste Niemand aus meinem Umfeld. Nicht einmal Linda. Miriam hatte es ebenfalls nie erfahren.
 
Ich hätte nicht gedacht, dass Jay dazu fähig wäre, sein hohes Amt so zu missbrauchen. Aber wenn ich es mir jetzt noch einmal durch den Kopf gehen lasse, war es eigentlich gar kein Wunder, dass er so mit Mädchen umging. Zu einem nicht geringen Teil, war vermutlich auch Sebastian daran schuld. Ich muss gestehen, dass ich einen riesigen Hass auf Sebastian verspüre, auch wenn ich sicherlich Respekt vor ihm habe, seitdem ich weiß, zu was er fähig ist. Hass, da er meine beste Freundin kaltblütig ermordet hatte, Respekt, da ich wusste, er würde nicht davor zurückschrecken, mir das Selbe anzutun, sollte ich mich ihm nicht fügen.
 
Ich hörte das Kratzen von Lindas Feder auf dem Papier und blickte zu ihr herüber. Sie hatte, wie ich es erkennen konnte, eine halbe Seite vollgeschrieben, mehr als ich bis jetzt geschrieben hatte.
Ich merkte, dass ich beobachtet wurde. Unser „Aufpasser“ kam zu mir an den Tisch, nahm sich mein Blatt und las es durch. Bei jeder Zeile wurde sein Lächeln breiter. Was der Grund dafür war, konnte ich mir denken. Ich hatte in meiner Zeit, die ich Mitglied war, die Hälfte der Regeln gebrochen, die ich aufgeschrieben hatte. Er legte mir das Blatt wieder hin. „Du wirst das jetzt noch einmal abschreiben. Deine Schrift gefällt mir nicht.“ Ich wusste, dass er mich nur aufregen, nur provozieren wollte. Meine Schrift war total in Ordnung.
Ich schluckte meinen Ärger hinunter und begann die Artikel von vorn abzuschreiben, dabei um eine bessere Handschrift bemüht. Linda schien den Ansprüchen zu genügen, da er bei ihr kommentarlos vorbeiging und sich dann in den vorderen Teil der Höhle begab, um die Oberjünger zu kontrollieren.
 
Linda sah zu mir hinüber. „Das ist ganz schön mies, was er mit dir macht.“, flüsterte sie gerade laut genug, damit ich es hören konnte. „Wie viele Artikel hast du?“, flüsterte ich. „Naja, 20. Und mir fällt langsam nichts mehr ein. So viele Artikel hatte ich ja nun noch nicht. Du kennst weitaus mehr als ich. Du standest einen Rang über mir“ „Das ist es ja gerade....“ „Du willst mir doch nicht weiß machen, dass du weniger Artikel aufgeschrieben hast, als ich? Abby, du konntest die Artikel von uns dreien am Besten. Du müsstest eigentlich diejenige sein, die alle, einschließlich der Artikel der einfachen Jünger, auswendig kann. Ich weiß ja nicht, wie viele genau das sind, aber ich denk mal 30 kommen da bestimmt zusammen.“ „Linda, gegen die Hälfte der Artikel, die ich aufgeschrieben habe, hab ich verstoßen und mit einigen hatte ich auch Probleme. Allein schon mit dem ersten.“ Sie sah mich mit großen Augen an.
„Mit dem ersten? Inwiefern?“ Ich zögerte. „Manche Leute interpretieren diesen Artikel für ihre Zwecke und missbrauchen somit ihre Macht.“ „Du meinst Sebastian?“ „Ich meine Jay.“ „Was?“ „Als ich beim ersten Jüngertreffen war und wir allein waren, da er mit mir noch einmal die Regeln durchgehen wollte, fragte er mich nach dem ersten Artikel. Ich dachte erst, er wollte mich testen, aber in Wirklichkeit wollte er, dass ich ihn küsse. Er meinte, er wäre mein Meister während dieser Treffen, was ja auch richtig war, aber als er mich dann geküsst hat, hat er mir den Artikel ins Ohr geflüstert...“ Linda kam nicht dazu etwas zu erwidern, da der schwarze Kuttenträger wieder zu uns kam. Von unserer Unterhaltung hatte er nichts mitbekommen.
 
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich noch vor dem Blatt gesessen und die Artikel fein säuberlich abgeschrieben habe. Irgendwann kam Jay und sah sich meine Arbeit an. „Das ist sehr enttäuschend von dir. Ich hätte mehr erwartet. Hat dir das Studium nichts gebracht?“ Mir lag schon eine garstige Erwiderung auf der Zunge, die ich dann hinunterschluckte. Wie sollte ich mich auf den Kodex konzentrieren, wenn er in der Nähe war und nur das Eine wollte? Sein Blick lag immer noch auf mir. Er wartete auf eine Reaktion.
„Doch, nur...ich hab im Moment einen Blackout...“ „Wirklich?“ , hakte er nach. Es war zu hören, dass er mir nicht glaubte. „Soll ich deinem Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge helfen?“, fragte er drohend. „Du kannst mir nicht erzählen, dass du keine Artikel mehr weißt! Du konntest den Teil des Kodex, den du können musstest, sehr gut auswendig! Ich hab mich erst mit Sebastian darüber unterhalten, also versuch mich nicht für dumm zu verkaufen. Das kann ich nämlich absolut nicht ab! Vielleicht sollten wir das Studium des Kodex wieder aufnehmen und es intensivieren, damit du die Regeln kennst?“ Das Wort intensivieren hatte er betont.
Sein Tonfall war immer noch bedrohlich. „Ich glaube es ist wirklich besser, wenn du mich mal kennen lernst, wie Miriam mich kannte.“ Ich hatte den Blick auf die Tischplatte vor mir gesenkt. Meine Hände waren zu Fäusten geballt, die Knöchel weiß in dem Versuch ihn nicht zu hören, nicht aus der Haut zu fahren.
 
Als er sich abwandte und zu Linda ging, atmete ich ein paar Mal tief durch. Bei Linda hatte er nichts auszusetzen.
„Schreib das noch zu ende. Ich warte solange.“ Er war wieder hinter mich getreten. Ich versuchte meine Hände wieder zu entspannen und weiter die Artikel abzuschreiben. Er sah mir über die Schulter und machte mich dadurch noch nervöser. So sauber wie möglich versuchte ich zu schreiben, um den Zeitpunkt, an dem ich wieder mit ihm gehen musste, noch hinauszuzögern. Dabei überlegte ich fieberhaft, ob mir noch ein weiterer Artikel des Kodex einfiel, den ich noch nicht aufgeschrieben hatte.
Doch mir wollte keiner einfallen, da ich Jays Blick auf mit spürte. Der letzte Artikel war abgeschrieben und Jay nahm mir das Blatt weg, reichte es dem Untergebenen und kam zu mir zurück. „Los komm! Sebastian wartet schon. Er wird das Studium persönlich mit dir durchführen.“ Ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit. Jay wäre mir allemal lieber gewesen, als Sebastian. Als Jay mich, wieder gefesselt, aus der Höhle führte, blickte ich mich noch einmal um. In Lindas Blick lag Angst.

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